Was könnte (alles) ein Skandal sein? (23.6.22)
Nun wieder Herr Schweppenhäuser im nd (23.6.) (das „Neues Deutschland“ haben sie im Internet schon gelöscht.)
Ein neuer alter Meister in der Dialektik des Bestehenden. Ein neuer Nachahmer des Meisterschülers der Kritischen Theorie, der auf die Knie vor unserem Staat gefallen ist, und, unvergesslich, sein Engagement für den Krieg gegen Jugoslawien. -
Sein schönes Argument, das natürlich nur für die westliche Wertegemeinschaft gilt:
„Der Philosoph Jürgen Habermas führte in Verteidigung des Vorgehens der NATO aus, dass eingriffslegitimierende Mängel im Völkerrecht nicht zur Tatenlosigkeit gegenüber Völkermorden führen dürften.“ (So in Wikipedia).
Aber nun nichts dazu, auch Schweppenhäusers Dialektik ist gut genug für die Russen:
„Fazit: Die autoritär-imperialistische Kriegsgewalt, die fadenscheinig damit gerechtfertigt wird, dass faschistische Tendenzen bekämpft werden sollen, fördert genau diese nach Kräften.“ (nd). Ja der Russe ist Schuld am Entstehen dessen, was er bekämpft! Na, dann sind wir doch fein raus und helfen gerne der Ukraine gegen den durch Russland induzierten Faschismus, idealerweise mit dt. Sturmgewehren und Panzer, denn die haben den Russen doch schon einmal Mores lehren wollen.
Doch zum Thema: Nun also zur Documenta. Und egal, ob in der FAZ jemand schreibt, oder einer dieser „Linken“, immer zuerst der arme Walter Benjamin, der sich auch nicht mehr wehren kann. Dann, schon anspruchsvoller, Peter Weiss, obwohl der doch zu dem Thema so gar nicht passt. Denn was machen, wie geschildert im Text, dessen Protagonisten: sie studieren das Kunstwerk!
Das macht Schweppenhäuser aber nicht, zumindest kommen in dem Artikel nur die kolportierten Skandalszenen vor. Das reicht und fertig ist der dt. Staatsreflex.
Nun, ich hätte das Kunstwerk gerne selber gesehen; so wie ich auch Rosenberg gelesen habe oder etwas harmloser Spengler usw. Aber das sollen und dürfen wir nicht. Statt dessen wird über Ästhetisierung und Politik schwadroniert, nebenher noch an Agitprop erinnert. Man muss auch hier kritisches Denken gegen seine offiziellen und weniger Erben verteidigen.
Das mindeste wäre eine Diskussion mit dem Künstlerkollektiv gewesen. Nicht über sie, nicht gleich mit Sanktionsdrohung, sondern neugierig, was sie sich dabei gedacht haben.- Ich habe in China gelernt, dass wenn man dort den Holocaust als singuläres Weltkatastrophenereignis thematisiert, die das nicht verstehen. Denn sie haben Erfahrungen mit den Japanern im 2. Weltkrieg. Sind die weniger katastrophal? Und dort findet man andere Opferzahlen. Und: ist tot nicht tot? Doch, man muss „relativieren“, das heißt nicht entschuldigen oder verharmlosen, aber in einen Weltzusammenhang der andauernden Katastrophen stellen. Aber manche Deutsche, die die Gnade der späten Geburt haben - oder das Glück, machen ihren Holocaust lieber einmalig. Was das psychologisch motiviert, will ich lieber nicht versuchen. Natürlich hat jedes Land seine singuläre Katastrophe(n?), aber wenn es um die ganze Welt geht, so in der Documenta, dann verschieben sich die Perspektiven. Die Sache zu kritisieren und das heißt analysieren, wird durch diese und die anderen Einwürfe verhindert; dass nun nicht über Kolonialismus, Imperialismus gestern und heute diskutiert wird, da freuen sich doch unsere Erben hier und drüben in USA.
Wenn ich so etwas lese: „Kunst ist politisch, wenn sie Menschen hilft, ihr zeichenvermitteltes Verständnis der Welt und auch ihr praktisches Verhältnis zur Welt zu gestalten. Sie hilft niemals durch Reproduktion von Stereotypen, aber häufig durch Verrätselung und Irritation“. Das ist bessere Schulpädagogik; der Umgang mit mündigen Bürgern wäre anders, die Frage nach dem Klassencharakter von Kunst wird autoritär beantwortet oder erst gar nicht gestellt.
Was denken sich die Verantwortlichen: Dass es einen Naziaufmarsch vor dem Bild gibt? Dass Leute, die es betrachten, anschließend Juden jagen? (Was für die Israelis dann vielleicht ein Grund wäre, uns anzugreifen; damit wären wir selbstverständlich einverstanden und liefern ihnen gerne die nämlichen Waffen.)
Vielleicht ist das schlechte Kunst; aber ich wäre vorsichtig diesem Bild den Kunstcharakter abzusprechen, wenn in den Museen alte Badewannen stehen und Blutsauger in Menge (z.B. Könige) etc. herumhängen, oder, meine teure Lieblingsplastik immateriell ist. (Die echte Fortsetzung der weißen Leinwand).
Die Dialektik von Form und Inhalt kommt ohne das Davor und Danach (Rezeption und später) nicht aus.* Mir scheint, der Skandal ist nicht das Bild, sondern einmal mehr, was uns als Belehrung zugemutet wird. (Aber, sorry, das auch noch: seit Corona wissen wir, was die Oberen und ihre Intellektuellen von uns halten.)
PS: Es ist eine Katastrophe, vielleicht eine absichtsvolle, was bei uns unter Faschismus und Imperialismus verstanden wird: Wer lesen kann und will, sollte vielleicht damit anfangen:
Sorge, Richard: Der neue deutsche Imperialismus. Mit einem Vorwort von Jürgen Kuczynski. Dietz Berlin 1988 (zuerst 1928)
und vielleicht, aber es gibt natürlich viel mehr...
Kaestner, Jürgen: Die politische Theorie August Thalheimers. Frankfurt/New York 1982
Campus: Forschung; Bd. 297
* Es wäre doch im Idealfall denkbar, dass die Künstler, die das Bild gemalt haben, nach einer Diskussion es bearbeiten? Vielleicht war so etwas auch gedacht; wir wissen es nicht, und wäre ich einer der Künstler, mein Koffer wäre schon gepackt.
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Ein Lob der „jungen Welt“ (update 30.6.):
https://www.jungewelt.de/artikel/429359.documenta-15-wir-verurteilen-jeden-rassismus.html
PS: Und wenn das stimmt, was Schölzel in der gleichen Ausgabe über den neuen Preisträger des dt. Buchhandels schreibt, dann steht es mit der Stiftung genau so schlimm wie mir ihrer Partei. Die arme Rosa Luxemburg, wenn sie das wüsste...
Update 23.7. aus den Nachdenkseiten:
https://www.nachdenkseiten.de/?p=86158