Sündenbock oder Projektion
Die Geschichte mit dem Sündenbock war den Protagonisten der Frankfurter Schule (Adorno) zu einfach für eine Erklärung des Verhältnisses "Nationalsozialismus" und Juden. Eher waren es im Rahmen eines psychoanalytischen Erklärungsversuchs verdrängte psychische Tendenzen, die projektiv auf die Juden übertragen wurden, um sie dort (sadistisch) zu bekämpfen.
Ich vermute freilich, der Zerfall dessen, was mal Individuum hieß, ist inzwischen soweit vorangeschritten, dass man wieder zur Sündenbock "Theorie" zurückkehren kann.
Übergangsweise sei an die sogen. Flüchtlingskrise 2015 erinnert, wo unterdrückte psychische Strömungen auf diese projiziert wurden, und verdrängte Ängste hochkamen. Von den befürchteten ökonomischen Folgen schweigen wir, ein Hinweis hätte die Unterstützung von Merkels Politik durch die Manager großer Konzerne geben können; und wir haben ja angeblich immer noch einen Arbeitskräftemangel in bestimmten Bereichen...
Was immer hilft gegen beides: Projektion und Sündenbook, ist eine etwas genauere Kenntnis der möglichen Opfer. Als ersten Schritt gibt es dann wenigstens Ausnahmen. (Zugegeben mit der schrittweisen Aufklärung ist es so eine Sache.)
Der diesjährige Preisträger des Arno-Reinfrank-Preises heißt Tijan Sila für die "Fahne der Wünsche" und kam mit seinen Eltern aus Bosnien als Kind nach Deutschland.
"Die Fahne der Wünsche" habe ich noch nicht gelesen, aber dafür seinen ersten Roman, der als E-Book in unserer Bibliothek verfügbar ist: "Tierchen unlimited". Apropos: das Kulturland D. bzw. Baden-Württemberg lässt nun Ungeimpfte generell nicht mehr in die Bibliothek. Unmöglich als solcher noch einen Ausweis zu beantragen - alles nur noch online. - Immer ist die Frage nützlich: was nützt wem?
Herr Sila beschreibt in dem Roman eine (seine?) Kindheit in Bosnien während des Krieges und ein Bildungsgang in D. bis zum Berufseinstieg. Wer also etwas über einen ungewöhnlichen (oder nicht?) Lebenswegs eines jungen Mannes mit sogen. Migrationshintergrund erfahren möchte, ist hier richtig. Das ist ein Erziehungsroman mit Schelmencharakter, mit Witz und leider zu vielen Nazis, wofür der Autor freilich nichts kann. Der Roman ist wunderbar leicht zu lesen, sprachlich bildet er etwas das Milieu ab: "Es war voll die schlechte Idee", aber das schadet ihm nicht i.G. Auch wenn seine Eltern Akademiker sind, ist das eher eine Abstiegsgeschichte, aber der Sohn bekommt mit viel "Glück und Witz" noch die Kurve und wird hoffentlich ein besserer Bibliothekar.
Bei dem Corona-Maßnahmen-Wahn ist mir die psychologische Komponente nicht ganz klar. Projektiv scheint hier wenig zu gehen. Oder unterstellt man den Ungeimpften ein wildes, animalisches, hemmungsloses Leben; das wäre nun albern. Ist es der Hass auf die Natur, mit allem Risiko das menschlichem Leben (Aktivität) nun einmal eigen ist; die Angst vor dem Tode findet hier sein zu zerstörendes Motiv? Oder reicht zumindest für die politische Ebene das einfache Sündenbook-Motiv, um von den eigenen Fehler abzulenken; die von der kleinen und der großen Raffgier, der Umverteilung und Kriegslüsternheit abzulenken, dem Bettenabbau und der versäumte echten Unterstützung für die Pflegeberufe. (Wie immer liegt das Problem in der Vergangenheit, der Aktivismus verdeckt, dass man es auch in Zukunft so lassen möchte.)
Nein, meine Erfahrung ist, der diskursive Horizont wurde überschritten, wenn es denn jemals eine Diskussion gegeben hätte, Rechtsstaat und Demokratie wurde in die höhere digitale Form überführt. Die herrschende Klasse hat gelernt, wie man das "Volk" und v.a. die sogen. Intellektuellen vor sich her und in jede Richtung treiben kann. Das wird uns noch Mores lehren. Leider gibt es keine vernünftige Opposition, das ähnelt 1914, und wir müssen die Leute sammeln, die sich nicht verrückt haben machen lassen. Weiterführende Ziele (Sozialismus) kann man wohl im Moment nicht haben, eine Rückkehr zu einer bürgerlichen Demokratie, die die Möglichkeit einer sozialistisch/kommunistischen Opposition einschließt, wäre schon viel. Ach ja, und langsam fange ich an zu überlegen, ob wir nicht einen Anti-Digitalisierung-Schub brauchen. Wenn ich an das Elend mit meiner Bank (online) denke, an die Post usw. usf., ja man könnte zum Nostalgiker werden. Wir bestimmen weder die Richtung wohin das geht, noch die Formen, wir zahlen nur den Preis.
Tipp:
Sila, Tijan: Tierchen unlimited
https://www.kiwi-verlag.de/magazin/news/stadt-speyer-vergibt-arno-reinfrank-preis-2021-tijan-sila
Eine gute Wahl für den Preis, ich bin gespannt auf die anderen beiden Romane des jungen Mannes.
(Text ist von 11/21)