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Vorhersagen und Nachsehen

Veröffentlicht am 31.07.2022

Pandemie und Sozialpsychologie

Folgenden Text schrieb ich im April 2020. Darin bespreche ich mein erstes sozialpsychologisches Buch zu Corona. Schön, wie naiv ich damals noch war. Unser Regierung hat sich an andere Ratgeber gehalten. Und nun warte ich gespannt auf das vielleicht abschließende Buch zum Thema (Natürlich ist man nie fertig!) von Mattias Desmet. Zur Vorbereitung empfehle ich Gustave Le Bon "Psychologie der Massen" und Sigmund Freuds "Massenpsychologie und Ich-Analyse".

 

Ist es nicht interessant, und man macht das doch bei jeder Gerichtsverhandlung beispielsweise nach einem Autounfall, zu fragen, wie es dazu kam? Und gehört es nicht zur Schuldfrage, wenn Warnsignale ignoriert wurden: z.B. es regnete, dann sollte man nicht so schnell fahren, mit Alkohol sowieso nicht, und musste das sein, mit dem Smartphone herumspielen, obwohl es doch schon entsprechende Warnschilder an den Autobahnen gibt? SMS verschickt - und dann tot...

Nun, das Thema heißt bei uns Vergangenheitsbewältigung, und das ist eher eine Überwältigung als dass man irgendwelche sinnvollen Schlußfolgerungen aus einer "Vergangenheit" zieht. Es ist meistens eine konsequenzlose Show-Veranstaltung im Kulturbereich, so nachhaltig wie die Sonntagsreden unseres politischen Führungs-Personals.

Das gilt auch für die gegenwärtige Pandemie. Die, die für die milde gesagt mangelhafte Vorbereitung auf die Krise verantwortlich sind, haben umso autoritärer reagiert, und baden nun in Zustimmungswerten, die verdecken, dass sie ihre neoliberale Politik auch in der Krise fortsetzen. Wir werden die Ergebnisse nächstes Jahre bilanzieren können. Schon jetzt siehe z.B. https://www.hintergrund.de/politik/welt/der-corona-effekt/ (Danke I. für den Tipp!) Besonders widerlich ist, wenn nun mit dem Finger auf China gezeigt wird, um vom eigenen Versagen abzulenken. Das ist das psychologische Niveau unserer westlichen Führung - und das der "Massen"?

Da ist es doch interessant ein Buch zu studieren, dass sich mit der kommenden Pandemie aus sozialpsychologischer Sicht befasst und von einem Psychologen stammt: Steve Taylor ist Professor in Kanada und klinischer Psychologe.

Man kann das Buch relativ gut lesen, das spezielle Vokabular ist rasch zu lernen. Natürlich geht es darum, was eine Pandemie ist, und welche wir kennen. Besonders hat mir am Anfang des Buches diese Mischung aus Fällen und möglichen Schlußfolgerungen gefallen. Z.B.: Wer kennt: Mary Mallon auch 'Typhoid Mary' genannt? Sie war wohl der bekannteste "erfolgreiche" Superspreader.

Natürlich wendet sich das Buch in erster Linie an damit befasste Instanzen und Psychologen, aber es ist doch interessant, auf welchem Niveau wir uns befinden. Lassen wir schaurige Studien zum tatsächlichen Händewaschen weg, und fragen uns, wer ist das Objekt? Natürlich gibt es bei uns jede Menge Blödmänner, die Gerüchten aufsitzen, an Quacksalber glauben usw. So werden eben Menschen gemacht, mehr, als dass sie sich selber machen. Und der Praktiker fragt sich nicht, was es bedeutet, wenn man zu den Hygienehinweisen auf der Toilette, noch ein Paar Augen dazu malt, wenn das nur die Wirksamkeit erhöht. Das Meiste darin ist ganz vernünftig, und man kann das Buch den zuständigen Stellen durchaus empfehlen. Trotzdem hat man das Gefühl, dass hier etwas schief ist. Ich meine nun nicht diese nette Stelle, die die grünen Fahrradfahrer ärgern dürfte:

"There will be a rise of quack cures and folk remedies. Charlatans will seize opportunity to capitalize on mass fears. During the Spanish flu bicycle vendors sought to promote the wares by claiming that bicycles were good for you, because cycling keep you out in the fresh air, away from the stuffy, contaminated confines of public transportation. Similar claims will likely to be made by unscrupulous entrepreneurs during the next pandemic."

Das kann nur so erklärt werden, dass der Mann als Kind einmal vom Fahrrad gefallen ist, oder in diesem Punkt nicht auf der Höhe der Zeit ist - eine Kleinigkeit.

Interessant ist, wenn es um die Herkunft von Gerüchten, Quaksalberei, Aberglauben etc. geht, v.a. wenn diese in Impffeindlichkeit umschlägt. Impfen, sofern ein Impfstoff vorhanden ist, ist neben Hygiene und sozialer Distanzierung einer der Hauptpunkte, um Pandemien zu bekämpfen. Da kommt natürlich, auch wenn wir nicht in Berlin-Kreuzberg oder hier in Stuttgart in einer bestimmten homöopathischen Atmosphäre sind, allerhand Aberglaube zusammen; aber eben nicht nur. Der Mann redet vom Staat, wie dieser optimal mit pandemischen Krisen umgeht, aber natürlich nicht, dass dieser Staat selber ein Teil der Krise ist, sie evtl. mit provoziert hat. Z.B., wäre Ausbruch und Verlauf der Spanischen Krankheit ohne den ersten Weltkrieg, und was damit zusammenhängt, so passiert? Usw.

Nicht jedes Misstrauen gegen behördliche Maßnahmen ist unberechtigt (z.B. die kommende Smartphoneüberwachung) und kann nur ausgeräumt werden, wenn es berechtigtes Vertrauen in die Regierung und deren Kontrolle gibt. Aber dieses Vertrauen will verdient sein, und da sind wir wieder bei der Vorgeschichte.

Ich habe zwei neue Wörter bzw. Begriffe gelernt, die ich peinlicherweise nicht kannte: Bibliotherapy, die ich sehr empfehle! Und das Wort: nocebo Effekt. Ich kannte nur den placebo. Gefallen hat mir auch die Kritik der andere Seite des leichten Wahnsinns: übertriebener Optimismus. Doch es gibt in dem Buch manches zu entdecken und zu reflektieren.- Man vermisst eine kritische Öffentlichkeit, die nur sporadisch auftaucht, aber keine organisatorische Basis hat, um ihre Wirkung entfalten zu können. Es korrelieren sehr stark Herr Söder und das Virus in der Presse, nicht die kritische Berichterstattung und nicht die Fragen, wie unsere Gesellschaft gestärkt aus der Krise hervorgehen könnte. Der kulturelle und soziale Substanzverlust könnte dramatisch werden.

Steven Taylor: The Psychology of Pandemics. Preparing for the Next Global Outbreak of Infectious Diseases. Cambridge Scholar Publishing UK 2020

 

PS: "The poor may have been among the first victims but the pestilence eventually levelled populations equally... Few saw the rich surviving any better than the poor." (Das bezieht sich freilich auf die Beulenpest im 16. Jh.) Das erklärt doch manches?!

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